Intern
Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie

DFG-Forschungsprojekt "Die Zentrale-Orte-Theorie Walter Christallers in der Prähistorischen Archäologie. Neubewertung und Alternativen"

In den Forschungen zum Neolithikum, zur Bronzezeit und zur Eisenzeit Mitteleuropas gilt W. Christallers Theorie Zentraler Orte (ZOT), 1933 in monographischer Form vorgelegt, als ein probates Mittel zur Rekonstruktion prähistorischer Siedlungsmuster. Weichenstellend für eine archäologische Adaption dieses Modells waren D. Deneckes und E. Gringmuth-Dallmers Operationalisierungen, die der spezifischen Quellenlage der Archäologie gerecht zu werden versuchen. Vermittelt über eine Rekonstruktion der Siedlungshierarchie sollen Erkenntnisse bezüglich der Sozial-, Wirtschafts- und Herrschaftsstrukturen gewonnen werden. Dabei bleibt jedoch eine entscheidende Voraussetzung der Theorie Christallers unberücksichtigt: Sie kann dann hilfreich sein, wenn bekannt ist, dass es eine Siedlungshierarchie gab und diese der Logik der Zentralörtlichkeit entsprach, sie ist aber ungeeignet für die Beantwortung der Frage, ob es eine Siedlungshierarchie gab und ob diese zentralörtlich organisiert war. Beides wird bei der Projektion auf prähistorische Siedlungslandschaften zumeist diskussionslos vorausgesetzt, woraus eine Verzerrung des Bildes der jeweiligen Gesellschaften ins Hierarchische und Zentralistische resultiert. Zuletzt ist verschiedentlich versucht worden, als Korrektiv für die Vereinseitigungen der ZOT die Analyse zentraler Orte mit Netzwerktheorien zu ergänzen, doch auch dieser Ansatz fokussiert sich einseitig auf die Ermittlung von Zentralitätsstrukturen. Die grundlegende Problematik von als selbstverständlich vorausgesetzten Siedlungshierarchien, die zugleich Ausdruck ausgeprägter gesellschaftlicher Hierarchien sein sollen, bleibt von diesen Versuchen unberührt. Dass sich die zur Verfügung stehenden Daten und die Möglichkeiten ihrer Visualisierung durch den Einsatz von Geoinformationssystemen (GIS) stark vermehrt haben, lässt die Frage nach einem adäquaten Deutungsrahmen noch drängender erscheinen.

Vor diesem Hintergrund verfolgt das Projekt drei Ziele. Erstens werden in einem forschungsgeschichtlichen Abriss die Implikationen herausgearbeitet, welche die Anwendung der ZOT auf sozialhistorische Deutungen des Neolithikums, der Bronzezeit und der Eisenzeit hat. Zweitens ist der Erklärungswert alternativer geographischer Raummodelle bezüglich prähistorischen Siedelverhaltens einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Und drittens schließlich ist ein eigenes, empirisch gesättigtes Modell zu formulieren, das den Besonderheiten archäologischer Quellen Rechnung trägt und das theoretisch auf der Differenzierungstheorie, material auf der Auswertung ethnographischer Dokumentationen von Siedlungsmustern beruht. Dabei dienen die differenzierungstheoretischen Kategorien dazu, im archäologischen Befund unterschiedliche Differenzierungsmuster zu identifizieren und morphographisch zu beschreiben, während mittels der ethnographischen Empirie dann die Frage nach der Beschaffenheit der Sozialsysteme zu beantworten ist, die diese Muster hervorgebracht haben.

Walter Christaller’s Central Place Theory in Prehistoric Archaeology. Reevaluation and Alternatives

In research on the Neolithic, Bronze Age, and Iron Age of Central Europe, W. Christaller’s Theory of Central Places, first published in 1933, is considered a suitable means of reconstructing prehistoric settlement patterns. Fundamental for an archaeological adaptation of this theory were D. Denecke’s and especially E. Gringmuth-Dallmer’s operationalizations, which attempt to do justice to the particularities of archaeological sources. By means of a reconstruction of the settlement hierarchy, insights should also be gained into social, economic, and power structures. However, an important premise of Christaller’s theory remains unconsidered: It can be useful if it is known that there was a settlement hierarchy but is inappropriate for answering the question of whether there was a settlement hierarchy and whether it was organized according to the logic of central places. This is usually assumed without discussion when projecting the Central Place Theory onto prehistoric settlement landscapes, and the result is a distortion of prehistoric societies towards hierarchy and centrality. Attempts to supplement the analysis of central places with network theories as a corrective to the one-sidedness of the Central Place Theory also focus one-sidedly on the determination of centrality structures without considering other patterns of spatial organization. Unaffected by these attempts is the fundamental problem of settlement hierarchies taken for granted, which are at the same time supposed to be an expression of distinctive social hierarchies. The fact that the available data and the possibilities of visualizing them have greatly increased through the use of geographic information systems (GIS) makes the question of an adequate interpretative framework seem even more urgent.

In this context, the research project is dedicated to three tasks. Firstly, in an outline of the history of research, the implications of the application of the Central Place Theory to socio-historical interpretations of the Neolithic, the Bronze Age, and the Iron Age will be worked out. Secondly, the explanatory value of alternative geographical theories of prehistoric settlement behavior needs to be examined. And thirdly, a separate, empirically saturated model has to be formulated that takes into account the particularities of archaeological sources and that is theoretically based on differentiation-theoretical models, materially on the evaluation of ethnographic documentation of settlement patterns. The categories of differentiation theory serve to identify and morphographically describe different patterns of differentiation in the archaeological evidence, and then to answer the question of the nature of the social systems that produced these patterns by means of ethnographic empiricism.

 

Ansprechpartner

PD Dr. Matthias Jung
Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie
Institut für Altertumswissenschaften
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Residenzplatz 2
97070 Würzburg
Mail: matthias.jung1@uni-wuerzburg.de

Förderer

Deutsche Forschungsgemeinschaft

Literatur

M. Jung, Walter Christallers Theorie Zentraler Orte in der Bronzezeit- und Eisenzeitforschung. Die Geschichte eines Missverständnisses. In: A. Weidinger/J. Leskovar (Hrsg.), Interpretierte Eisenzeiten IX. Fallstudien, Methoden, Theorie. Tagungsbeiträge der 9. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie. Studien zur Kulturgeschichte von Oberösterreich 51, 2021, 87–97.

M. Jung, Archäologische Deutungstopoi zu Befestigungsanlagen der Bronze- und Eisenzeit im Lichte ethnographischer Evidenzen. Archäologische Informationen 44, 2021, 205–218.

M. Jung, „Anarchy in the LBK!?“ Sozialmodelle prähistorischer Gesellschaften jenseits von Hierarchie und Machtkonzentration. In: V. Becker/I. Hohle/H.-J. Beier/R. Einicke (Hrsg.), Soziale Beziehungen, Netzwerke und Sozialstrukturen im Neolithikum Europas. Varia neolithica XI. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 97 (Langenweißbach: Beier & Beran 2021) 63–74.