Erzählen mit vielen Arten
Im Wintersemester 2025/26 arbeitete Fernanda Haskel, Stipendiatin im Rahmen des Programmes Psychosoziologie von Gemeinschaften und Soziale Ökologie der Universität Rio de Janeiro, Brasilien, mit unserer Forschungsgruppe. Die Geschichte einer Gärtnerin über die tröstende Kraft von Johanniskraut inspirierte Fernanda. Sie verwob die Leuchtkraft der Heilpflanze mit der Geschichte ihrer im 19. Jahrhundert aus Deutschland nach Brasilien eingewanderten Familie zu einer neuen Pflanzengeschichte.
DER TRAUM DER BLUME
Von Fernanda Haskel mit Johanniskraut
Dies ist die Geschichte einer Pflanze, die am Rande der Blumenbeete träumt. Sie träumt und lässt andere träumen. Träume sind überlieferte Technologien. Die Pflanze und ihre Menschen träumen, um zwischen den Welten zu navigieren.
In einer nahegelegenen Stadt – zwischen den Betonstraßen – hört eine Frau eine Geschichte über Johanniskraut und schläft ein.
Nachdem sie den Namen der Pflanze zum ersten Mal gehört hat, dringt Johanniskraut in ihre Träume ein. Die Blume lässt die Samen der Erinnerungen in einem neuen Traum keimen: Ein blauer Ballon fliegt über ein nahegelegenes Land – ein Land ohne Zivilisation.
Als sie erwachte, blühte schon in deutscher Sprache der Name in ihrem Herzen: Johanniskraut.
Verzauberung ist die Lehre der Pflanze. Mit ihrem Zauber nimmt sie die Frau in ihre Obhut. Sie kümmert sich um sie und leitet sie, hilft ihr, Verluste zu überwinden.
Zwischen den Welten wandelnd ruht sie und träumt davon, sich ihr hinzugeben. Alles, was sie tun muss, ist ihren Körper dem Zauber anzuvertrauen.
Die Haut der Frau wird von den leuchtenden Pollen der sonnigen Blütenblätter bestäubt.
Pflanzensaft und Blut vermengen sich, verflochtene Wurzeln durchdringen ihren Körper und lassen den Garten der Erinnerung ebenso wachsen wie die Erinnerungen des Gartens. Sie sät die Pflanze, und die Pflanze sät sie.
Ihr Körper, er gehört nicht mehr ihr allein. Er ist zum gemeinsamen Boden geworden, fruchtbar für die Pflanze, die er liebt.
Entrückt und verzaubert wird sie selbst zum Garten, zum Körper-Territorium, in dem Träume aus der Erde sprießen.
Sie nimmt andere Lebensformen an und lässt sich auch von ihnen annehmen.
Sie ist der Magie des Johanniskrauts erlegen. Ihre Wünsche werden zu seinen Träumen, zu den Träumen der Blume. Liebe heißt, einander begegnen und gemeinsam verschieden sein.
Durch Welten wandelnd, lebt das Johanniskraut als Grenzgängerin zwischen Medizin und Magie, Aberglaube und Wissenschaft, Labor und Legende. Zwischen Burgen und Kirchen, Glocken und Sirenen wurde der Name der Pflanze aufgrund ihrer Blütezeit mit einem Heiligenfest in Verbindung gebracht.
Johanniskraut blüht jedoch zur Sommersonnenwende. Trotz seiner namentlichen Verbindung zur Kirche folgt es dem Erdzyklus. Die Blume, sie träumt in der Sonne höchstem Stand.
Als Maria-Blutkraut kann sie – Heilerin und Hexe zugleich – Liebeszauber wirken und Krankheiten heilen. Heilende Frauen erkannten einst die magischen Fähigkeiten des Johanniskrauts. Im Laufe der Zeit wurden viele von ihnen durch patriarchale und koloniale Erzählungen als „Hexen“ gebrandmarkt. Doch spätere Aufzeichnungen deuten darauf hin, dass das Kraut – welche Ironie – zum Schutz vor Hexen verwendet wurde.
Es heißt, dass die winzigen Löcher in den Blättern des Johanniskrauts das Werk des Teufels seien, der über die heilenden und schützenden Kräfte der Pflanze verärgert war. Die Wissenschaft aber hat darin durchsichtige Drüsen entdeckt, voll von medizinisch wirksamen Substanzen. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Johanniskraut bei Erkrankungen wie Depressionen hilfreich ist, und schon bald wurde die Pflanze zu einem verpackten Nahrungsergänzungsmittel, das in den Regalen der Supermärkte zu finden ist.
„Und was“, fragt die Frau, „ist die Botschaft der Blätter?“
Anders als wir, schreibt die Pflanze ihre Worte nicht auf papierne Haut. Sie bewahrt alles, was sie erfährt, in fragmentierten Bildern, die sie durch die Löcher in ihren Blättern einfängt. Die Erinnerung an die Sonne trägt sie wie Samen in sich, immer bereit, mit ihnen am Rande der Blumenbeete neue Welten zu säen. Fürsorge ist die Form ihrer Sprache, Zuneigung ihre Schrift.
Die Löcher in den Blättern lassen Sonnenlicht durchscheinen. Schatten im Licht und Licht im Schatten.
In der Pflanzenliteratur gibt es Hinweise darauf, dass die Blätter eine Art Partitur darstellen.
Was Menschen als Licht wahrnehmen, empfinden Pflanzen als Klang – und singen mit dem Atem des Windes, der durch ihre Blätter weht. Das Pfeifen des Windes entschlüsselt die Partituren der Pflanzen und flüstert sie wie Zauberworte vor sich hin.
Sonne als Licht, Sonne als Ton, Sonne als Klang.
Zwischen Vernunft und Wahnsinn erzählen die Blätter des Johanniskrauts eine andere Geschichte – eine Geschichte, von Güte, Magie und Verbundenheit. Seine Blüten sind ungehorsam und beharrlich im Leben. Sie unterwerfen sich keiner Kontrolle. Zwischen den Rissen der Norm durchbrechen sie die Ordnung, lösen das Konkrete auf, ohne einen bestimmten Ort, an dem sie blühen können.
Für sie, die mit der letzten Blume des Sommers spricht, sind die durchscheinenden Drüsen wie die offenen Poren einer Haut. Sprachfenster, magische Tore, Vorrichtungen zum Übergang zu den transluzenten Denkweisen. Die Löcher in den Blättern sind Mechanismen, die unsere Wahrnehmung verändern, die uns „Welten durchsehen“ lassen.
„Die Augen sehen, das Gedächtnis erinnert sich, und die Vorstellungskraft ‚sieht darüber hinaus‘.“ – Manoel de Barros
Die Menschen sehen das Johanniskraut als Pflanze. Doch diese Pflanze sieht sich selbst als Mensch. Als Mensch mit Blütenhaut, gekleidet in einen löchrigen Blätterrock.
Die Sonne – der Traum der Blume – träumt von Welten, die in viele Welten passen.
Wenn man mit der Erde denkt, hört man das Rascheln der Blätter.
„Welche Welten könnten wohl entstehen“, fragt das Johanniskraut, „wenn wir auf das hörten, was am Rande der Blumenbeete blüht – am Rande der Welten, am Rande der Zivilisation?“
Zwischen den Welten lehrt Johanniskraut, an den Rändern der Beete zu träumen.
Translation revised by and adapted with Julia Gilfert
| Um die Wende zum neuen Jahrtausend erschien im Süden Deutschlands eine unbekannte mediterrane Wildbiene: Die blaue Holzbiene. | ![]() |
In Franken wurde die Biene zunächst von verschreckten Gärtnern als fremder Eindringling (interpretiert als „Ufo“) bekämpft.




Schon zwanzig Jahre später ist die Biene als wichtige Mit-Gärtnerin anerkannt.

2022 wurde die Holzbiene Gartentier des Jahres (Heinz-Sielmann-Stiftung), 2024 wurde sie Wildbiene des Jahres (NABU) |
Immer mehr Gärtnerinnen berücksichtigen die Bedürfnisse der Biene: Alte Obstbäume dürfen vor Ort verrotten, Muskateller Salbei verstärkt die mediterranen Pflanzengemeinschaften.

Durch den Klimawandel verstärkt, wandert die Blaue Holzbiene inzwischen auch in den Norden Europas. Wie viele andere Arten auch, ist sie gekommen, um zu bleiben. | ![]() |
Idee: Prof. Dr. Michaela Fenske
- Mit der Blauen Holzbiene Denken. Neue Perspektiven auf die Verflechtungen von Menschen und Insekten. In: Bayerisches Jahrbuch 2023.
- Becoming Aware of Insects: Dangers and Endangerments in the Anthropocene. In: Hollsten, Laura et al. (ed.): Human-Bug Encounters in Multispecies Networks. Boston/Leiden 2025.
Gestaltung: Dr. Sandra Eckardt






