Intern
Lehrstuhl für Europäische Ethnologie / Empirische  Kulturwissenschaft

Alltagspraktiken, die uns retten

Im Sommersemester 2021 fragten Masterstudierende der Europäischen Ethnologie im Rahmen des Seminars „Alltagspraktiken, die uns retten“ danach, welche Praktiken ihren Mitmenschen helfen, Krisen zu bewältigen. Durch Interviews und wissenschaftliche Deutungsangebote entdeckten die Forschenden dabei teils Unerwartetes. Ihre aufschlussreichen Befunde verdichteten sie in kurzen vignettenartigen Texten. Diese Miniaturen aus dem und über den Alltag veröffentlichen wir ab der kommenden Woche in loser Folge auf der Homepage des Lehrstuhls.

Verantwortlich: Prof. Dr. Michaela Fenske

Stricken: Symbiose aus Freude & Sinn

Jessica Leitner

Die Nadel führt den Faden unerlässlich weiter. Man muss nicht mehr hingucken, die Hände wissen, wie sie sich bewegen müssen. Was vorher nur ein rundes Wollknäuel war, formt sich durch Erfahrung und Fleiß zu Mustern aller Art. Pullis, Socken, Taschen – das gibt einem Zufriedenheit, wenn man sagen kann: Das hab’  ich selbst gemacht! Ich tu’s, weil ich’s kann und weil’s dazu gehört, zu einem guten Abend. Gelernt von der Mutter, sie von ihrer Mutter, diese von ihrer …, weil Frauen das eben machen. So war das früher mit der Weiblichkeit. Heute strickt jede(r), bis Masche um Masche ein neues Stück entstanden ist, das es vorher noch nicht gab. Und wenn man das verschenken kann, dann hat sich’s doch gelohnt; die Freude die ich gebe, die krieg’  ich dann zurück.

PapageienMensch sein

Thomas Schneider

Papageien sind Freddies Leben. Die Fürsorge für seine Vögel hat ihn geformt. Mir kommt es so vor, als habe Freddy nach so vielen Jahren mit Sittichen und Papageien diese Vögel quasi im Körper. Er spürt, was seine Vögel brauchen. Das tägliche Füttern, das zweiwöchige Saubermachen, das Beobachten der Tiere, das Ausgestalten ihrer Volieren mit Ästen prägen sein Leben und das der Vögel. Dies führt zu einem gemeinsamen Wachsen und Werden und zu einer persönlichen Krisenbewältigung. „Wenn alle fit sind, wenn sie ans Gitter kommen und gleich fressen und keine Angst haben. Dies gibt einem schon etwas, dass man dann runter kommt von dem Ganzen.“ Denn PapageienMensch sein heißt: „Wenn es den Vögeln gut geht, dann geht es dem Vogelzüchter auch gut.“

Draußen sein, spazieren gehen

Kim Zoe Pfeifer

Wir trinken einen Kaffee unter Bäumen. Plötzlich wird Anna von den ersten Sonnenstrahlen des Tages geblendet, die durch die Äste einer Eiche auf uns scheinen. Draußen sein und spazieren gehen hat in der Corona-Pandemie für viele Menschen an Bedeutung gewonnen. Anna sagt, Spazierengehen habe für sie fast den gleichen Effekt wie Yoga oder Meditieren. „In der Natur kann ich mich ganz auf mich selbst konzentrieren, mich auf das Wichtige besinnen und vor allem ganz tief durchatmen. Es ist, als ob die Klänge, die verschiedenen Geräusche, das Zwitschern der Vögel im Wald dafür sorgen, dass ich runterkomme.“ Was zu Anfang der Pandemie medial als offizielles Corona-Hobby propagiert wurde, ist für Anna und andere Menschen mittlerweile fast ein tägliches Ritual. Natürlich bringt das auch physische Vorteile, man wird fitter. Das Wichtigste ist aber, dass man den Kopf wirklich frei bekommt, man kann sich entspannen.

Ausmalen: Solitude in Farbe

Jessica Leitner

Etwas immer wieder machen, auf die gleiche Art und Weise, das entspannt. Erst das Wasser in den Becher, der Pinsel muss gut nass sein. Die Farbe riecht nach Chemie. Den Pinsel eintauchen. Blau auf Weiß, bis die nächste Farbe dran ist. Egal was davor war oder danach sein wird, jetzt geht es nur um die gleichmäßigen Pinselstriche. Manchmal ganz in Stille, manchmal mit Musik. Und wenn du auch die kleinen Felder schaffst, ohne zu patzen, dann macht dich das stolz.

Gemeinsam(keit) erleben

Thomas Schneider

Papageien sind bunte gesellige Vögel, die untereinander rege kommunizieren, einander dabei sehr zugewandt. Auch Halter und Züchter von Papageien sind gesellig. Die Vögel dienen gewissermaßen als Vermittler zwischen ihnen. So eröffnet Vogelhaltung nicht nur eine „contact-zone“ (Donna Haraway) zwischen den Arten, sondern auch zwischen den Menschen. Wie bei Engelbert. Engelbert trifft sich mit anderen Züchtern auf Vogelbörsen und -schauen, und er besucht seine Züchterkollegen in ganz Deutschland: „Von Bremen bis Freiburg. Ich habe überall Bekannte jetzt, und wenn man sich mal auf Börsen sieht, dann ist das immer wunderschön.“ Man hat Mentoren und Vorbilder, die einem mit Rat und Tat zur Seite stehen und helfen, Rückschläge zu verkraften. Wo einer herkommt, ist dabei egal, denn es gilt: „Unter Vogelzüchtern sind wir beim ‚Du‘.“

Glauben

Kim Zoe Pfeifer

Glauben ist für viele Menschen eine überlebenswichtige Praxis. In meinem Umfeld kann ich inmitten der Pandemie beobachten, dass der Glaube vielen Menschen Halt und Sicherheit gibt. Egal ob Menschen buddhistischen, jüdischen, muslimischen oder christlichen Glaubens oder ob weniger an den Weltreligionen ausgerichtet gläubig: Wichtig ist, sich im Glauben wohl zu fühlen.  Lea erzählt, dass ihr ihr Glaube Hoffnung gibt und sie dankbar ist, Glück und Frieden in ihm zu finden.  Die gemeinsame Kraft des Glaubens verbindet in diesen Zeiten und macht die Gläubigen stark.

Bildausschnitt von Marc Chagall, Adam und Eva wurden aus dem Paradies vertrieben, 1961 URL: https://www.topofart.com/de/artists/Chagall/art-reproduction/18018/Adam-und-Eva-wurden-aus-dem-Paradies-vertrieben.php, zuletzt geprüft am 09.08.2021.