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Lehrstuhl für Altorientalistik

Raum und Kosmos

Raum und Kosmos (D. Shehata)

Die Welt nach dem Enūma eliš

Das sich über insgesamt sieben Tontafeln erstreckende Enūma eliš ist gemäß der verkürzten Angabe im texteigenen Epilog „…das Lied von Marduk, der Tiamat vernichtete und die Königswürde annahm“ (Lambert 1994, 602). Der Mythos handelt damit vom Sieg des babylonischen Gottes über das Wesen Tiamat (wörtl. „Salzmeer“) - Urmutter der Götter und ein die Welt bedrohendes Monster - und seiner anschließenden Erhöhung zum obersten Gott des Pantheons. Was in dieser Beschreibung unkommentiert bleibt, ist die im Anschluss seines Sieges vollzogene Erschaffung der Welt. Sie wird in den Tafeln IV und V des Epos erzählt.

Zwar sind die wichtigsten Götter sowie einige ‚Elemente‘  und ‚Räume‘ bereits vor dem großen Schöpfungsakt durch Marduk existent, so die süßen (Apsû) und die salzigen (Tiamat) Wasser oder das Andurunna, als himmlischer Götterwohnort (Taf. I). Die Welt allerdings, wie sie dem Menschen sichtbar bzw. erlebbar ist, wird erst durch Marduk erschaffen. Hierbei dient ihm der Körper der besiegten Tiamat als wichtigste Schöpfungsmaterie. Er teilt ihn in zwei Hälften, aus denen er Himmel und Erde herstellt. Innerhalb dieses neu erschaffenen ‚Kosmos‘ richtet Marduk ‚Wohnräume‘ für die Götter Anu im obersten Himmel und Enlil im Eschara ein, einem zweiten Himmel, der wohl der Erde näher gelegen ist. Sein eigener Vater Ea hatte sich bereits im Apsû, im Körper des ehemaligen Gatten Tiamats, eine Wohnstatt eingerichtet.

Nach Festlegung der kosmischen Räume, die im Wesentlichen den Göttern als Wohnort dienen, erschafft Marduk zunächst Sterne und Planeten, die ihm zur Einteilung der Zeit dienen (Jahr, Monat und Tag). Hierauf folgt die Verteilung des Elements Wasser auf Himmel (Wolken, Regen, Nebel) und Erde (Wasserquellen, Euphrat und Tigris), die er teilweise parallel zur Gestaltung der Erdoberfläche vollzieht. Auf ebendieser erbaut er als letzten Akt im Rahmen der Welterschaffung seinen eigenen königlichen Sitz und zugleich Versammlungsort der Götter: die Stadt Babylon.

Die durch Marduk erschaffene Welt umfasst mehrere kosmische Räume und die in ihnen wirkenden göttlichen Kräften. Diese verteilen sich im Wesentlichen über den bzw. die Himmel. Die Erde wiederum dient ihm selbst als Wohn- und Wirkungsbereich, und letztlich auch den Menschen, deren Erschaffung in der folgenden Tafel VI geschildert wird.

Kosmische Räume: Himmel und Erde

Das Enūma eliš ist nicht die einzige Quelle, die eine Beschreibung des Kosmos liefert. Sie ist allerdings recht ausführlich und gut erhalten. Auch wenn sie jüngere Vorstellungen vom Kosmos widerspiegelt mit Marduk als König des Götterpantheons (frühestens spätes 2. Jt.v.Chr.), so fließen in diese Schilderung zahlreiche ältere Vorstellungen ein.

Die ‚schichtenartige‘ Aufteilung des Universums nach Himmel(n) und Erde ist bereits aus dem altbabylonischen Atramasīs-Mythos bekannt (2. Jt.v.Chr.). Dort ist sie allerdings auf drei kosmische Regionen reduziert: den fernen Himmel des Gottes An, die Erde bzw. den ‚Luft(raum)‘ zwischen Erdoberfläche und Himmel, den Wirkungsbereich des damaligen Götteroberhaupts Enlil und den unterirdischen Süßwasserozean Apsû, der dem Gott Enki(=Ea) als Wohnort dient.

Die Vorstellung von der Gestalt und den Räumen des Himmels (Sumerisch an; Akkadisch šamû) stellt sich uns auch nach anderen Quellen recht uneinheitlich dar (z.B. in astronomischen Omina, Beschwörungen und religiösen Kommentaren). So variiert die Anzahl der Himmelsschichten von einer über drei (oberster Himmel des An, mittlerer Himmel der Igigu-Götter, unterer Himmel der Sterne) bis hin zu sieben verschiedenen Himmelssphären. Aber auch die Erde (Sumerisch ki oder kur; Akkadisch eretum) wird in einigen Texten hierzu analog dreifach und auch siebenfach gezählt, wobei die einzelnen ‚Erden‘ nicht genauer spezifiziert werden.

Ein wichtiger Bestandteil des komischen Raums ‚Erde‘ ist die Unterwelt (Sumerisch arali; Akkadisch eretum; meist dieselbe Terminologie wie für „Erde“). Sie wird daher in Beschreibungen von Raum und Kosmos, wenn überhaupt, dann eher Rande erwähnt. Dennoch ist sie fester Bestandteil mesopotamischer Raumvorstellung. Sie beherbergt nicht nur die Geister der Toten, sondern neben Dämonen auch verstorbene Könige und Götter. Herrin über diesen Ort, aus dem weder Menschen noch Götter zurückkehren, ist die Göttin Ereškigal, Schwester der Göttin Inanna/Ištar (s. Inannas Gang in die Unterwelt). Zu ihr gesellt sich spätestens seit altbabylonischer Zeit der Gott Nergal als ihr Gatte (s. Nergal und Ereškigal), der zunehmend in den Texten des ersten Jahrtausends als Herr der Unterwelt fungiert und als solcher adressiert in Gebeten und Hymnen wird.

Insgesamt lässt sich die mesopotamische Vorstellung vom Kosmos als Schichtenmodell darstellen. Während der Kosmos zuoberst vom Himmel des An abgegrenzt wird, ist der zuunterst liegende Raum die Unterwelt. Sie liegt sogar unterhalb von Enki Apsû, welcher in manchen Texten auch als „mittlere Erde“ bezeichnet wird.

Die „Babylonischen Weltkarte“

Eine andere Sicht auf die Welt und ihre Regionen vermittelt uns die so genannte mappa mundi, die „Babylonische Weltkarte“, die uns auf einer Tafel aus dem 1. Jt.v.Chr. erhalten ist. Dieses einzigartige und zugleich eigentümliche Dokument bildet die „Welt“ nach damaligem Verständnis in Aufsicht, d.h. in horizontaler Ausrichtung ab.

Die von Menschen bewohnte Erde wird als Kreis wiedergegeben, der vom „Salzigen“ (Akkadisch marratu), also dem Meer umgeben ist. In dieses Meer fließen aus dem Erdenkreis heraus verschiedene Flüsse und Kanäle, die über doppelte Linien angezeigt werden. Die Karte verzeichnet auf der Erde mehrere Städte und Regionen, ohne jedoch auf eine korrekte geographische Anordnung wert zu legen. Im Zentrum der obersten Kreishälfte befindet sich Babylon. Damit reflektiert die Karte ein babylozentrisches Weltbild, das dem des Enūma eliš entspricht.

Auf den ersten Blick ähnelt die kreisförmige Darstellung den berühmten Weltkarten des Anaximander (geb. um 610 v.Chr.) bzw. des Hecataios von Milet (ca. 560-480). Allerdings integriert die babylonische Version weitere ‚Räume‘ (wörtl. Regionen = Akkadisch nagû), die sich außerhalb des Weltkreises befinden. Es waren wohl insgesamt acht solcher Regionen, die in Form von Dreiecken abgebildet über bzw. hinter das Meer hinauszuragen scheinen, von denen heute allerdings nur fünf erhalten sind. Diese Regionen werden von wilden Tieren, mythischen Wesen und legendären Königen bewohnt. Hier findet man Ut(a)-napišti, den Helden der Sintflutgeschichte aus dem Gilgamesch-Epos, der Unsterblichkeit erlangte. Auch die Tore für Auf- und Untergang der Sonne werden hier verortet. Es sind damit Regionen, die zwar Teil der vor allem aus Mythen und Legenden bekannten Welt bilden, für einen Normalsterblichen allerdings unerreichbar bleiben und somit auch nicht real erfahrbar sind.

Die mappa mundi im British Museum London

 

 

Tempel, Stadt, Land, Steppe und Gebirge

Eine vergleichbare Vorstellung von der horizontalen Ausrichtung der Welt erschließt sich uns aus mythischen Texten, Ritualen und Beschwörungen. Dabei wird das Zentrum der irdischen Welt grundsätzlich vom Tempel besetzt. In vertikaler Ausdehnung bildet er zugleich das Bindeglied zwischen Erde und Himmel und versammelt innerhalb seiner Mauern die höchstmögliche Konzentration an göttlicher Ordnung auf Erden. Diese nimmt mit zunehmender Entfernung vom Tempel graduell ab. Stadt und umliegendes Land befinden sich noch in ihrem unmittelbaren Wirkungsbereich. Die Steppe und das angrenzende Gebirge sind hingegen Regionen, die von ‚ungeordneten‘ Wirkungsmächten dominiert werden. Hier treiben nicht nur wilde Tiere, sondern auch Totengeister, Dämonen und Monster ihr Unwesen. Für den altorientalischen Menschen gelten daher Steppe und Gebirge auch historisch bedingt seit jeher als Regionen, aus denen Feindseligkeiten zu erwarten sind. Entsprechend der „Babylonischen Weltkarte“ werden auch hier an den vom besiedelten Raum am entferntesten liegenden Regionen die Tore für den Auf- und Untergang der Sonne verortet. Überhaupt sind Tore in diesem Modell von besonderer Bedeutung. Sie ermöglichen den Übergang zwischen den Regionen und müssen aus diesem Grund stets gut bewacht sein. Hierin begründet sich die altorientalische Tradition, Tore und Eingänge von Gebäuden und Städten entsprechend zu sichern. So werden zur Abwehr vornehmlich dämonischer Wirkungsmächte abschreckende Statuen aufgestellt sowie kleinformatige Schutzfigurinen an den Türschwellen vergrabenen.

Ausgewählte Literatur

Horowitz, W. (1998) Mesopotamian Cosmic Geography, Mesopotamian Civilizations 8. Eisenbrauns: Winona Lake, Indiana. 

Lambert, W.G. (1994) Enuma Elish, in: O. Kaiser (Hg.), Mythen und Epen II. Texte aus der Umwelt des Alten Testaments Band III Lieferung 4, Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh, S. 565-602.  

Pongratz-Leisten, B. (1994), Ina Šulmi Īrub. Die kulttopographische und ideologische Programmatik der akītu-Prozession in Babylonien und Assyrien im 1. Jahrtausend v. Chr. Mainz am Rhein, von Zabern.